Ängste nehmen + Perspektiven schaffen = mehr Lebensqualität
Auf diese einfache Formel lässt sich auf den ersten Blick eine noch junge Disziplin bringen. Doch es steckt weitaus mehr hinter diesem wichtigen Angebot für Krebspatienten und ihre Angehörigen. Dies ist zum einen der Tatsache geschuldet, dass jährlich ca. 500.000 Neuerkrankungen registriert werden. Damit hat sich laut Krebsinformationsdienst die Zahl der Betroffenen seit 1970 nahezu verdoppelt. Nach Schätzungen der WHO wird in den nächsten Jahren etwa jeder 3. Mensch in Deutschland an Krebs erkranken. Es wird künftig, wie es der Onkologe Siddharta Mukherjee in seinem Buch „Der König aller Krankheiten. Krebs eine Biographie“[1] so trefflich resümierte, nicht mehr die Frage sein, ob, sondern wann der Krebs unser Leben verändert. Mit anderen Worten: Krebs ist mitten unter uns – eine fast schon grausame Normalität – mit der Folge, dass der Bedarf an medizinischer, psychoonkologischer und sonstiger Beratung und Versorgung stetig steigen wird.
Psychosozialer Support ist bei Krebs überlebenswichtig!
Trotz medizinischer Fortschritte, deutlich gestiegener Heilungschancen und zunehmend guter Prognosen ist die Diagnose „Krebs“ meist ein Schock für Betroffene und Angehörige. Zwischen 15 und 35 Prozent aller Patienten erleiden allein aufgrund der Diagnosestellung eine Traumatisierung, so Prof. Volker Tschuschke von der Universität Köln, Institut für Psychosomatik und Psychotherapie. „Dieser Schock muss schnell behandelt werden, sonst ergeben sich schwerste psychophysische Belastungen; … Sie können dazu führen, dass der Betroffene keine Kräfte frei hat, um die Erkrankung und die Behandlung zu bewältigen.“[2] Erst wenn Kopf und Seele frei von Belastungen sind, kann sich ein Patient auf die Behandlung einlassen und dies wiederum fördert die Heilungschancen und Überlebensraten. Inzwischen sind dazu die Zusammenhänge zwischen Psyche und Immunsystem medizinisch nachgewiesen.[3]
Psychoonkologie
An dieser Stelle kommt die Psychoonkologie zum Einsatz, eine interdisziplinäre Form der psychosozialen Beratung mit einem ganzheitlichen Ansatz. Sie befasst sich mit den psychischen, sozialen und sozialrechtlichen Bedingungen, Begleiterscheinungen und Folgen einer Krebserkrankung. Konkret gilt es, seelische Belastungen (Symptome wie Angst und Depression) zu reduzieren und körperliche Befindlichkeiten (Erschöpfung, Schmerzen) zu lindern. Die Psychoonkologie richtet damit den Blick auf die jeweilige Lebenssituation des Patienten und auf seine Bezüge innerhalb des sozialen Umfeldes. „Ihr Ziel ist es, eine wirksame Hilfe zu geben zur möglichst weitgehenden Erhaltung oder Wiederherstellung der Lebensqualität.“[4]
Menschliche Schicksale
Mit Krebs sind also viele menschliche Schicksale und vor allem auch viele offene Fragen verbunden. Was kommt bei der Therapie auf mich zu? Wie bewältige ich meinen Alltag mit der Krankheit? Was wird aus mir und meiner Familie? Welche Hilfen kann ich in Anspruch nehmen? Etc. Aus triftigem Grund hat der Psychoonkologe Nikolaus Gerdes [5] diese Situation mit seinem bahnbrechenden Aufsatz als „Sturz aus der normalen Wirklichkeit“ beschrieben. Dabei wird die Erkrankung als schwere Lebenskrise empfunden, die nicht nur die erkrankte Person betrifft, sondern auch ihr gesamtes soziales Umfeld – d.h. Krebs ist eine hochsystemische Angelegenheit, die niemanden nur alleine trifft. Nicht selten handelt es sich bei der Inanspruchnahme der Psychoonkologie um eine gezielte Krisenintervention, sozusagen eine „psychische Erste Hilfe“, insbesondere bei der Bewältigung der Angst vor Autonomieverlust, sozialer Isolierung und der Bedrohung der gesamten sozialen und existenziellen Identität. Die betroffenen Menschen sehen sich dabei den verschiedensten Belastungen ausgesetzt.
Vom Befund zur Befindlichkeit
So ist die Krebserkrankung auch eine schwere Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls und eine tief gehende Erschütterung der persönlichen Integrität. Diese geht oftmals einher mit dem Gefühl des Kontrollverlustes, der Empfindung der Krankheit, den Ärzten und ihren Therapien hilflos ausgeliefert zu sein und nicht zuletzt auch mit „Hader mit dem Schicksal, mit dem Körper und auch mit der eigenen Person“[6]. Aufgabe der Psychoonkologie ist es, diese Kontrolle wieder herzustellen, aber, und das mag vielleicht zunächst ein wenig paradox klingen, auch gleichzeitig eine Akzeptanz für die Unsicherheit der menschlichen Existenz zu schaffen. Nämlich im Wissen, dass wir alle sterblich sind, und eine Krebsdiagnose uns dies noch viel stärker und deutlicher vor Augen führt. Dies fordert neben der persönlichen Überwindung, auch eine Menge Kraft und Vertrauen des Erkrankten.
Ressourcenorientierung und Copingstrategien
Doch woher nun diese Energie nehmen, die man so dringend benötigt? Wohlgemerkt ist Krebs eine Krankheit, für die enorme Anpassungsleistungen erbracht werden müssen. Diesem Ansatz versucht die Psychoonkologie mit ihren verschiedenen Methoden Rechnung zu tragen. Krankheit gestaltet sich dabei nicht als statischer Zustand, sondern als (Entwicklungs-)Prozess und zwar aller Beteiligten, bei der vor allem Ressourcenorientierung und Bewältigungsstrategien (Coping), im Sinne der „Hilfe zur Selbsthilfe“, eine tragende Rolle spielen. Dabei findet der Faktor Akzeptanz eine ganz wichtige Bedeutung als Strategie. Die Bereitschaft des Erkrankten, psychoonkologisch geschultes Personal als Unterstützer zuzulassen, sowie der akzeptierende, achtsame Umgang mit der Krankheit selbst, gelten inzwischen nicht mehr nur als wissenschaftliche Forschungsbereiche, sondern sie finden auch in der Praxis eine zunehmende Relevanz. Hier steht das Aufspüren von Möglichkeiten im Rahmen des Möglichen im Mittelpunkt, um eine Entlastung von der Belastung zu schaffen. D.h. man muss sein Leben umstellen, und dies vielleicht auch als Chance zu einem bewussteren, intensiverem Leben be- und ergreifen.
Rolle der Psychoonkologen
Die Rolle des Psychoonkologen ist dabei die eines Beraters zur Bewältigung der bestehenden, belastenden Problematiken. Zur Aufgabe der Psychoonkologen gehört es auch, kommunikative Barrieren und Sprachlosigkeit zwischen Patient und Umfeld zu überwinden, insbesondere zwischen Patienten und Ärzten. Auch sie sind dazu da, den Betroffenen dabei zu helfen sich mehr mit ihrer Krankheit zu befassen, mehr Informationen und somit mehr Wissen darüber zu erlangen.[7]
Die Vertreter der Psychoonkologie verstehen sich dabei zumeist als „anwaltschaftlicher“ Mittler zwischen allen Beteiligten, um die so oftmals nötigen Klärungen herbeizuführen. Insofern gehören „Halten und Aushalten“ zu den wichtigsten und zugleich schwierigsten Aufgaben der psychoonkologischen Unterstützer.[8]
Ausblick
Krebs ist wie der anfangs erwähnte Autor und Pulitzer-Preisträger Mukherjee konstatiert, ein blinder Passagier im Leben eines jeden Menschen. Krebserkrankungen mehren sich. Je älter wir werden, desto öfter müssen wir damit rechnen und uns darauf einstellen, daran zu erkranken. Von daher wird das in der Psychoonkologie bestehende Motto, den „Mut zum Überleben“[9] zu schaffen, zu einer Maxime der Zukunft werden. Die Psychoonkologie bildet dazu die Grundbedingungen einer empathischen, würdevollen Begleitung eines Menschen in jedem Stadium seiner Erkrankung – im Sinne eines „Getragenwerden und Gehaltensein als tröstenden Beziehungsraum“[10]. So schafft die Psychoonkologie eine „Win-Win-Situation“ für alle Beteiligten zu einem besseren Umgang mit der Erkrankung. Denn nicht zuletzt ist Krebs eine Krise, die es zu meistern gilt.
[1] Mukherjee, S. Der König aller Krankheiten. Krebs – eine Biographie, Köln 2012
[2] aus: Mut zum Überleben, Interview mit Prof. Dr. V. Tschuschke https://www.ugb.de/gesundheitsfoerderung/krebs-psyche-psychoonkologie/druckansicht.pdf
[3] Tschuschke, V. Psychoonkologie. Zur Bedeutung psychischer Prozesse bei Krebserkrankungen, in: Zeitschrift für Nervenheilkunde 9/2008, S. 823-840
Siehe auch Weis, J./Markovits-Hopii, R. Wie wirken sich psychosoziale Interventionen bei Krebspatienten auf die Lebensqualität aus, in: InFo Onkologie 7/2018, S. 14-15.
[4] Hack, Ch. Halten und Aushalten, in: Deutsches Ärzteblatt, Jg. 103, Heft 6 vom 10.2.2006, S. 322.
[5] Gerdes, N. Der Sturz aus der normalen Wirklichkeit und die Suche nach Sinn; in: Schmidt, W. Jenseits der Normalität. München 1986.
[6] Weyland, P. Das psychoonkologische Gespräch, Stuttgart 2017, S. 29.
[7] Tschuschke, V. ebd.
[8] Hack, Ch. Ebd.
[9] aus: Mut zum Überleben, Interview mit Prof. Dr. V. Tschuschke https://www.ugb.de/gesundheitsfoerderung/krebs-psyche-psychoonkologie/druckansicht.pdf
[10] Baldauf, D./Waldenberger, B. Getragenwerden und Gehaltensein als tröstender Beziehungsraum: Eine psychoonkologische Begleitung für Krebspatienten, Angehörige und Betreuer, Würzburg 2011.