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Den Tiger bändigen

Foto: pixabay
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Allein das Wort „Krebs“ löst in Sekunden Angst aus

Seit meiner Kindheit begleitet mich das Phänomen „Krebs“. Wir lebten mit der Großmutter unter einem Dach, und Oma hatte Hautkrebs im Gesicht. Das wussten alle, die Familie, die Verwandtschaft, die Nachbarschaft und auch wir Kinder. Wir lebten mit Oma und mit ihrer Diagnose. Meine beiden Eltern hatten Krebs, und auch ich wurde 2003 mit der Diagnose Brustkrebs konfrontiert.

 

Ich weiß, in vielen Familien gilt: Darüber spricht man nicht. Zumindest wird das Wort „Krebs“ vermieden. Stattdessen wird von „der Krankheit“ gesprochen. Es scheint gefährlich, das Wort in den Mund zu nehmen. Als wäre es ansteckend. Das zeigt unser magisches Denken.

 

Unser Gehirn startet sofort den Suchlauf. Es ruft Bilder, Worte, Erfahrungen ab, die wir mit dem Begriff in einen Zusammenhang bringen. Es aktiviert Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol, Stresshormone. Fachleute sprechen vom Diagnoseschock. Der Soziologe Nikolaus Gerdes sprach einst vom „unfreiwilligen Sturz aus der normalen Wirklichkeit“. Jedes Jahr erleben laut Statistik der Deutschen Krebshilfe rund 500.000 Menschen in Deutschland persönlich diesen Schock. Die Mitteilung an sie lautet so oder so ähnlich: „Sie haben Krebs.“

 

Nach über sechs Jahren als angestellte Psychoonkologin in einem Duisburger Brustzentrum arbeite ich jetzt freiberuflich mit Betroffenen und Angehörigen. Mein Anliegen ist es, die Sprachfähigkeit der Patientinnen und Angehörigen wiederherzustellen und es ihnen damit zu ermöglichen, diese Situation zu verarbeiten. Es geht um ihre selbstbewusste und selbstbestimmte Handlungsfähigkeit. Wegen der Tabuisierung des Wortes „Krebs“ und der mächtigen Gefühle spielen dabei sprachliche Bilder eine zentrale Rolle. Sowohl jene Metaphern, die Betroffene im Gespräch spontan erwähnen, als auch Metaphern, die sie auf meinen Impuls hin entwickeln.

 

Die Weiterarbeit mit dem sprachlichen Bildmaterial geht in zwei Richtungen: Stärkende Metaphern gilt es auszuleuchten und zu vertiefen, um die darin liegenden Ressourcen und Selbstheilungskräfte zu stärken. Und belastende Metaphern? Auch eine belastende Metapher, die eine Patientin für ihr Leiden findet, ist wertvoll. Die Kunst besteht darin, die Logik der Metapher aufzugreifen und auf der Bildebene aus der Not hinauszuführen. Eine Lösung anzubieten, um damit Zuversicht, Lösungsideen und Ressourcen zu wecken.

Metaphern zum Diagnoseschock

Frau K. (Anfang 30, verheiratet, zwei Kinder, mit Brustkrebsdiagnose) kommt zusammen mit ihrem Mann zum Gespräch: „Ich habe große Angst, was wird aus meinen Kindern? Seitdem der Arzt sagte, es sind mehrere Herde in der linken Brust, war der Boden unter den Füßen weg, und ich falle ...“.

 

Ich lasse sie erzählen, reiche Taschentücher. In einer Redepause greife ich die Metapher des Fallens auf: „Wenn eine Person fällt, was kann man tun, um sie aufzufangen? Sie zu retten?“ Die junge Frau reagiert auf den Impuls: „Na, die Feuerwehr hat doch diese Tücher, wie heißen sie gleich, die Sprungtücher. Die spannen sie auf und fangen die Menschen auf.“ Ein erstes, kaum bemerkbares Lächeln. Ich nehme das Bild auf: „Aufgefangen werden ...“ „Das wäre schön.“ Sie atmet durch. Ihr Mann nimmt sie in den Arm. „Aufgefangen werden, das brauchen Menschen in besonderen Situationen, so wie Sie jetzt ... Wer oder was könnte Sie auffangen?“

 

Frau K. beginnt, einzelne Namen aus dem Familien- und Verwandtenkreis zu nennen und zu prüfen. Ich habe derweil eine Art Sprungtuch gezeichnet (Kreis mit Strichen wie eine Sonne) und lade sie ein, die Namen um das Sprungtuch herum zu schreiben. Während sie schreibt, fallen ihr weitere Personen ein – aus dem Freundeskreis, der Nachbarschaft, der Schule. Sie sortiert, wer sich um die Kinder kümmern kann, wenn sie im Krankenhaus ist, und wer sie zum Arzt fährt. Sie kommt auf über 20 Personen und lächelt.

 

Ich sage: „Sie haben festgehalten, wer Sie auffängt und wer Ihnen guttut und hilft. Eine Frage habe ich noch: Was tut Ihnen gut und hilft? Wenn Sie zum Beispiel daran denken, was Ihnen bisher durch schwere Zeiten hindurch geholfen hat? Fähigkeiten, Eigenschaften, Gedanken ... Ihre Einfälle können Sie einfach in die Mitte des Tuches schreiben.“ Bei diesem Beispiel habe ich die Metapher des Fallens aufgegriffen, auf der Bildebene nach einer Lösung gefragt und einfach vorausgesetzt: Es gibt sie.

 

Weitere Metaphern-Beispiele von Patientinnen:

  • Ich bin auf einem sinkenden Schiff!

Lösungsmetapher: Ein Seenotrettungskreuzer taucht auf.

  • Es ist wie ein Sturz aus heiterem Himmel!

Lösungsmetapher: Es entfaltet sich ein sicherer Fallschirm.

 

Immer gilt: Fingerspitzengefühl! Die Lösung ist höchst individuell. Die Ärztinnen und Ärzte führen Gespräche, wollen auch trösten und ermutigen. Sie wenden sich dabei oft – naturwissenschaftlich geprägt – argumentativ an den rationalen Verstand. Sie haben viele gute und einleuchtende Argumente. So gibt es heute viel mehr Wissen und Möglichkeiten als früher, Krebs zu erkennen und Heilung zu bewirken. Zu diesen Argumenten für den Kopf, muss sich meiner Einschätzung nach eine Ansprache der Gefühle, der Seele, des Unbewussten gesellen. Es ist normal, Gefühle von Angst, Wut, Trauer ... zu empfinden, weil die Krebsdiagnose so „unnormal“ ist.[1]

 

Die Arbeit mit Metaphern gibt den belastenden Gefühlen Raum, nimmt sie ernst. Wenn ein Mensch sich auf diese Weise von der „Problemmetapher“ zu lösen vermag, ist viel für die ganzheitliche Bewältigung getan. Auf dieser Basis kann er Mut, Zuversicht und Handlungskompetenz entwickeln.[2]

 

Inzwischen hat die Psychoonkologie offiziell Einzug in das Gesundheitswesen gefunden. Seit 2012 sind „Psychoonkologische Maßnahmen Bestandteil des Gesamtkonzeptes der onkologischen Therapie“. Wie gut!

Metaphern zum Krankheitsbegriff

Inspiriert haben mich Joseph O’Connor und Ian McDermott in ihrem Klassiker „NLP und Gesundheit“[3] durch ihre Einladung, Bilder zu entwickeln und zu erforschen: „Meine Krankheit ist wie ...“, „Meine Gesundheit ist wie ...“. Viele Menschen sprechen von ihrer Krankheit in Bildern. Sie beschreiben den Krebs als Feind, als Krieg, als Ungeheuer und drücken damit ihre Not aus. Das Gemeine bei dieser Krankheit ist: Man kann nicht vor ihr weglaufen und sich in Sicherheit bringen, da die Gefahr innen ist, in einem selbst. Und wie will man gewinnen, wenn man mit sich selbst kämpft?[4]

 

Eine Lösung aus diesem Dilemma ist die Arbeit mit „Teilen“, mit Persönlichkeitsanteilen. Auf der Bildebene kann der Kampf mit einem Teil geführt werden, und das Ganze der Person gewinnt. Frau M. sieht den Krebs als ein wütendes Raubtier in ihrem Inneren, das über ihren Körper herfallen will, einen Tiger, der zum Sprung ansetzt.

 

Ich nutze Elemente aus der „Heldenreise“, eine Methode aus dem NLP nach Robert Dilts und Stephen Gilligan, und frage sie, in wen sie sich verwandeln müsste, um diesen Tiger zu bezwingen. Sie sieht den Dompteur vor sich, der „sogar eine Gruppe von Raubtieren in Schach hält“. Ich vertraue darauf, dass bereits das Lösungsbild an sich bereichernd und ermutigend wirkt.

 

In einem weiteren Schritt frage ich, über welche Qualitäten und Fähigkeiten ein guter Dompteur verfügt, und wie er sie nutzt. „Na, er hat das Wissen über die gefährlichen Tiere und ihre Instinkte, er ist nicht leichtsinnig, aber mutig. Und er kann klare Ansagen machen – mit seiner Körpersprache, seiner Stimme und der Peitsche: ‚Ich bestimme. Alles hört auf mein Kommando. Ich gebe hier den Ton an‘. Und er setzt sich durch.“

 

Wenn der Prozess auf der Bildebene abgeschlossen ist, hat das Unbewusste genügend Material zur Weiterarbeit. Danach lässt sich auch die inhaltliche Seite erforschen, hier: Was hilft zur Bewältigung der Krankheit? Frau M. ist engagiert und neugierig zugleich, konkrete Impulse für sich abzuleiten. „Welches Wissen benötigen Sie jetzt in Ihrer Situation?“, frage ich. Und später auch, wie sie ihren Mut aktivieren kann, wann sie in ihrem Leben mutig gewesen war. Frau M. erzählt von ihren Mut-Erfahrungen...

 

„Der Dompteur macht klare Ansagen auf verschiedene Art und Weise, haben Sie gesagt ...“, nehme ich ein weiteres Bild von ihr auf. „Ja“, sagt sie, „ich muss mit meiner Familie Klartext reden. Ich habe meine Kinder verwöhnt, wissen Sie, die Schule ist heute schon stressig genug. Jetzt müssen die beiden Großen eben mehr helfen, je nachdem, wie fit ich bin ...“.

Metaphern zur Behandlung

Herr S., begeisterter Radsportler, plante seine Zeit durch die Chemotherapie als Wettkampf, als Tour de France. „Da gibt es steile Strecken, schlechtes Wetter ...“ Seine Seele fand ein hilfreiches, vertrautes und positiv besetztes Bild für eine unbekannte Lebensstrecke. Ich konnte mich bei den Folgegesprächen nach der aktuellen Etappe erkundigen. In einer Schwächephase sorgte er sich, ob er das „gelbe Trikot“ halten könne, mehr noch, ob er die letzte Etappe überhaupt schaffen würde. Er nahm den Gedanken des ‚starken Teams‘ ebenso gern an wie den Ruhetag nach der Bergetappe.

 

Hier lassen sich die Elemente der Lösungsorientierung nutzen, um innezuhalten und selbst kleinste Erfolge wahrzunehmen und anzuerkennen. Andere Metaphern von Betroffenen vor und in der Chemotherapie:

  • Eine Pferdewirtin, die den Stall ausmistet.
  • Eine Gärtnerin, die die Schneckenplage chemisch bekämpft, um ihre Gemüseernte zu sichern.
  • Eine Frau, die so gründlich wie nie im ganzen Haus den Frühjahrsputz macht.
  • Ein Fußballtrainer, der seine Mannschaft für das Spiel aufstellt und trainiert: Wer übernimmt die Verteidigung, wer ist im Mittelfeld, wer sorgt für den Angriff…

Zu den Pionieren der psychoonkologischen Arbeit gehören der Radiologe Dr. O. Carl Simonton und seine damalige Frau Stephanie sowie die Psychologin Dr. Jeanne Achterberg. Sie haben bereits in den 70er-Jahren, damals als Außenseiter, von der Fachwelt kaum ernst genommen, sehr kranke Patienten zu Entspannung und Visualisierungsübungen eingeladen.

 

Mittels Trancen und Phantasiereisen halfen sie nicht nur den Krebs zu visualisieren, sondern vor allem auch die äußeren und inneren Heilkräfte.[5] Die Bildersprache diente als „Körper-Geist-Brücke“.[6] Durch die Bilder werden Informationen in beide Richtungen geleitet, zum Körper und zum Geist hin. „Der Körper-Geist reagiert auf lebhafte Phantasiebilder, ‚als ob‘ die vorgestellten Ereignisse sich in der äußeren Welt tatsächlich ereigneten“.[7] Mittlerweile gibt es viele neue wunderschön formulierte Trancen, die Betroffene in allen Krankheitsphasen unterstützen, auch in der NLP-Literatur und auf CDs, z. B. von Björn Migge, Sigrun Kurz und Daniel Wilk.

Metaphern zum System Familie

Die Psychoonkologie hat auch das soziale Umfeld der Patientinnen und Patienten im Blick: Partner, Kinder, Angehörige, Freunde. Denn die Nahestehenden sind von der Krankheit mitbetroffen. Auf der einen Seite sind sie gefordert, stark und verständnisvoll zu sein. Auf der anderen Seite sind sie ebenfalls geängstigt, überfordert und hilfsbedürftig. Auch hier lassen sich Metaphern heraushören: „Da ist die Krankheit wie ein Tornado über uns hinweggegangen ...“; „Eine Flutwelle ist nichts dagegen ...“ Eine gemeinsame Metapher kann verbinden.

 

Familie B. – in guten Zeiten begeisterte Segler – geht bei der Erkrankung der Frau vom eigenen Segelboot aus, das in schlechtes Wetter gerät. Für die Kinder weckt die Metapher Zuversicht, denn bei den bisherigen Segelurlauben hatten sie es bei schlechtem Wetter immer geschafft, heil nach Hause zu gelangen. Motto: Alle packen mit an. Das gemeinsame Ziel ist der sichere Hafen!

 

Herr P., Partner einer Patientin, erinnert an eine gemeinsame Bergtour mit seiner Frau. Das ist eine ergiebige Metapher! Er würde ihr gerne das Risiko und die Angst abnehmen. Aber er kann ihr nicht die Operation abnehmen. Bei einer Bergtour, da kennt er sich aus, würde er jetzt für eine Weile den „Vorstieg“ übernehmen. Das würde seine Frau anders sichern und damit entlasten. Und sie könnten öfter Rast machen...

 

Weitere Metaphern von Angehörigen:

Die Krankheit ist

  • wie eine Reise,
  • wie ein Jahr im Ausland,
  • wie eine Expedition in die Wüste.

Darin spiegelt sich das Unbekannte wider, das Fremde, das es zu bewältigen und für sich zu „erobern“ gilt. Im Austausch mit Medizinern und Pflegenden, Psychologen und Sozialarbeitern wird deutlich, wie wichtig es ist, gerade bei einer Krebserkrankung hoffnungsvolle, ermutigende Metaphern anzubieten, nicht nur die üblichen militanten Kampfansagen wie „Strategie“, „Großangriff“, „vernichten“, „ausräumen“, mit denen oft die hochwirksamen Behandlungsmethoden und chirurgischen Eingriffe beschrieben werden.

 

Die Patientinnen und Patienten brauchen vor allem attraktive Bilder von Lebendigkeit, Gesundheit und Lebensfreude, die sie motivieren und darin unterstützen, ihren individuellen Weg Richtung Gesundheit zu gehen. Und dabei das zu tun, was in ihrer Macht steht. Selbstbewusst und stark.

Ute Grießl, Psychoonkologin
Ute Grießl, Psychoonkologin

Mich persönlich hat das Bild eines Flusses auf meinem Weg zur Gesundheit begleitet und geführt. Der Fluss kann zeitweise mit Unrat verschmutzt, sogar mit Gift verseucht sein. Aber wunderbarerweise fließt frisches Wasser aus den Quellen und Zuflüssen immer nach. Das Wasser kann sich reinigen und wieder sprudeln als Quelle. Großgeworden zwischen Rhein und Ruhr lebe ich heute wieder nahe am Rhein.

 

Der Strom ist eine große Metapher für das Leben. Der Flusslauf von der Quelle bis zur Mündung entspricht dem Lebenslauf, von der Geburt bis zum Tod und darüber hinaus. Alle Flüsse enden im Meer, dort beginnt der Kreislauf des Wassers von Neuem – ein Bild mit spiritueller Kraft.


[1] Natürlich kann es vorkommen, dass durch eine Krebsdiagnose alte Traumata berührt oder psychische Beeinträchtigungen / Einschränkungen (erneut) entstehen (Angststörungen etc.). Aber das ist ein anderes Thema.

[2] Ein Ziel der Psychoonkologie ist, dass die Patientinnen und Patienten „wieder Kontrollgefühle, Handlungs- und Selbstwirksamkeitsbefähigung (...) erlangen“.  Ditz, Susanne; Diegelmann, Christa; Isermann, Margarete (Hrsg.) (2006): Psychoonkologie – Schwerpunkt Brustkrebs. Stuttgart, W. Kohlhammer, S.187.

[3] McDermott, Ian; O’Connor, Joseph (2002): NLP und Gesundheit. VAK Verlags GmbH Kirchzarten bei Freiburg, 3. Aufl.

[4] Anders als bei einem klassischen Trauma ... Isermann, Margarete in „Krebs und Psyche“, Psychoonkologie – Schwerpunkt Brustkrebs. Stuttgart,  W. Kohlhammer, S. 262 f.

[5] Welch ein Reframing, eine Chemotherapie, also eine Behandlung mit Zytostatika (= Zellgifte) als äußere Heilkraft zu bezeichnen!

[6] Jeanne Achterberg (1996): Rituale der Heilung. Die Kraft von Phantasiebildern im Gesundungsprozess. München, Goldmann, S. 100f.

[7] a.a.O, S. 101.